Beweiswert einer AU-Bescheinigung

LAG Mecklenburg-Vorpommern – Urteil vom 21.03.2023 – 2 Sa 156/22

Das LAG Mecklenburg-Vorpommern hat mit Urteil vom 21.03.2023 entschieden, dass der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung i. S. d. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt wird. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reicht die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung i. S. d. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen.

Sachverhalt

Der Kläger war ab dem 01.08.2019 bei der Beklagten als Mechatroniker beschäftigt. Mit Schreiben vom 29.10.2021 kündigte der Kläger dieses Arbeitsverhältnis zum 30.11.2021 und bat u. a. um Zusendung eines Zeugnisses und der Arbeitspapiere. Für die Zeiträume 03.11.2021 – 17.11.2021 sowie 17.11.2021 – 30.11.2021 reichte der Kläger bei der Beklagten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein. Ab dem 01.12.2021 nahm der Kläger eine Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber auf. Am 19.01.2020 öffnete die Beklagte den Spind des Klägers und fand dort einen Teil der von ihr gestellten Arbeitskleidung vor. Der übrige Teil der Arbeitskleidung befand sich am klägerischen Arbeitsplatz. Im Pausenfach des Klä-gers waren betriebseigenes Besteck sowie ein betriebseigenes Glas aufbewahrt, im Pausenraum stan-den eine vom Kläger verbliebene Kaffeemaschine der Marke „Severin“ nebst Kaffeedose.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dem Kläger stehe ein Entgeltfortzahlungsanspruch nicht zu, weil er nicht arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Aufgrund vorliegender Indizien sei der Beweiswert der von ihm eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert. Aus der Anforderung der Zusendung der Arbeitspapiere im Kündigungsschreiben an die Anschrift ergebe sich bereits für den 29.10.2021 die Kenntnis des Klägers, dass er nicht bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 30.11.2021 seiner Tätigkeit bei ihr nachgehen würde. Dies werde durch die Angabe der Anschrift in F-Stadt bestätigt, wo die Wohnadresse des Klägers in G-Stadt gewesen sei. Ein weiteres Indiz liege darin, dass bei der Spindöffnung am 19.01.2022 dort sowie im Pausenraum und dem zugewiesenen Schrank am Arbeitsplatz keinerlei persönliche Sachen vorgefunden worden seien. Dies weise darauf hin, dass der Kläger an seinem letzten Arbeitstag, dem 02.11.2021, bereits davon ausgegangen sei, bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Schließlich deckten die eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau den Zeitraum der Kündigungsfrist bis zur Aufnahme einer Anschlussbeschäftigung am 01.12.2021 ab.

Entscheidung

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet, dem Kläger steht ein Entgeltfortzahlungsanspruch nebst Zinsen zu. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von 6 Wochen, wenn er durch krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft. Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen. Regelmäßig wird dabei der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Die ordnungsgemäße ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für die vorliegend krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit. Ihr kommt ein hoher Beweiswert zu.

Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzu-legen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag z. B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Soweit er sich auf das Zeugnis behandelnder Ärzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die Ärzte von der Schweigepflicht entbindet.

Die Gesamtschau der vorliegenden Indizien führt nicht dazu, dass von einer Erschütterung des Beweiswertes der durch den Kläger vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgegangen werden kann. Soweit sich die Beklagte auf das Urteil des BAG (5 AZR 149/21) beziehen sollte, hat das BAG in dieser Entscheidung im Wesentlichen darauf abgestellt, dass eine Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorliegt, weil die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckte. Vorliegend ist eine solche Passgenauigkeit jedoch nicht gegeben. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Kläger nach Zugang der Kündigung am 29.10.2021 bei der Beklagten noch Arbeitsleistungen erbracht hat, seine Arbeitsunfähigkeit erst am 03.11.2021 begann und damit die zeitliche Koinzidenz nicht gegeben ist. Zum anderen liegt nicht nur lediglich eine Erstbescheinigung für die Dauer der Kündigungsfrist vor, sondern der Kläger hat eine Erstbescheinigung für den Zeitraum 03.11.2021 – 17.11.2021 sowie für den Zeitraum 17.11.2021 – 30.11.2021 eine Folgebescheinigung eingereicht.

Soweit der Kläger in seinem Kündigungsschreiben um die Übermittlung der Arbeitspapiere an eine Anschrift in F-Stadt gebeten hat, ist es nicht ungewöhnlich, dass Arbeitnehmer mit einer Eigenkündigung um Übersendung der Arbeitspapiere bitten. Dass der Kläger hierfür seine bereits im Arbeitsvertrag mit der Beklagten angegebene Meldeanschrift in A-Stadt mitgeteilt hat, ist nicht geeignet, ein gegen eine Arbeitsunfähigkeit sprechendes Indiz zu bilden.

Wenn die Beklagte darauf abstellt, dass sich keinerlei anderweitige private Dinge des Klägers im Betrieb befunden hätten, ist nicht ersichtlich, welche anderweitigen privaten Gegenstände der Kläger in ihrem Betrieb habe aufbewahren sollen bzw. welche anderweitigen privaten Gegenstände der Kläger während des laufenden Arbeitsverhältnisses regelmäßig in ihrem Betrieb aufbewahrt hat. Möchte ein Arbeitgeber die Entfernung privater Gegenstände aus dem Betrieb anführen, um zu belegen, dass ein Arbeitnehmer nicht mehr in den Betrieb habe zurückkommen, also keinerlei Arbeitsleistung mehr habe erbringen wollen, muss er die privaten Gegenstände benennen, welche der Arbeitnehmer im Betrieb aufbewahrt und die er sodann entfernt hat. Die pauschale Behauptung fehlender privater Gegenstände in dem Betrieb ist nicht geeignet, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigun-gen zu erschüttern.

Auch wenn angesichts der subjektiven Betroffenheit eines Arbeitgebers im konkreten Fall nachvollziehbar sein kann, dass er Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeit seines Arbeitnehmers während des Laufs der Kündigungsfrist hegt, kann diese subjektive Betrachtung nicht den entscheidungserheblichen Maßstab darstellen. Vielmehr ist es erforderlich, dass nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers objektiv greifbare Tatsachen feststellbar und gegebenenfalls beweisbar sind, die ein Ergebnis der ernsthaften Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung tragen können. Liegen dagegen lediglich objektiv mehrdeutige, plausibel erklärbare Sachverhalte vor, sind diese jedenfalls grundsätzlich nicht ge-eignet, ernsthafte Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründen zu können.

Bewertung

Manchmal überrascht es schon, wie blind sich Justitia stellt. Es will den Arbeitsgerichten nicht einleuchten, dass es zu einem neuen Volkssport verkommt, dass Beschäftigte in der Kündigungsfrist krankfeiern.

Quelle: VBF Nord

 

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