Individuelle Gehaltsverhandlungen widerlegen nicht die Vermutung einer geschlechtsbezogenen Entgeltbenachteiligung
Eine Entgeltbenachteiligung wegen des Geschlechts wird nach § 22 AGG vermutet, wenn eine Partei darlegt und beweist, dass ihr Arbeitgeber ihr ein niedrigeres Entgelt zahlt als ihren zum Vergleich herangezogenen Kollegen des anderen Geschlechts und dass sie die gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichtet.
Sachverhalt
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte wegen einer geschlechtsbezogenen Entgeltdiskriminierung zur Zahlung eines höheren monatlichen Grundentgelts sowie einer Entschädigung verpflichtet ist. Die Klägerin ist seit 01.03.2017 als eine von drei Vertriebsmitarbeitern für die Beklagte tätig. Ihr mo-natliches Grundgehalt betrug zunächst 3.500 EUR brutto. Sie begründete ihre Klage mit Verweis auf ihren Vertriebskollegen P, der zunächst ein monatliches Grundentgelt i. H. v. 4.500 EUR brutto erhielt und seit 01.01.2017 bei der Beklagten arbeitet. Der von der Klägerin wegen der Ungleichbehandlung geltend gemachte Anspruch auf die Vergütungsdifferenz summiert sich auf 14.500 EUR nebst Zinsen. Die Beklagte entgegnete, dass die höhere Vergütung des P Ausfluss der Vertragsfreiheit sei, weil P besser verhandelt habe. Auch ihm habe sie zunächst 3.500 EUR brutto angeboten, was P aber nicht ausgereicht hätte. Schließlich seien der Klägerin andere Wünsche erfüllt worden, etwa zusätzlich 20 Tage unbezahlter Urlaub pro Jahr. Anknüpfungspunkt für die unterschiedlichen Vereinbarungen sei damit nicht das Geschlecht, sondern individuelle Vertragsverhandlungen gewesen. ArbG und LAG wiesen die Klage ab.
Entscheidung
Die Revision vor dem 8. Senat war mit Urteil vom 16.02.2023, 8 AZR 450/21, überwiegend erfolgreich. Die Klägerin habe einen Anspruch aus Art. 157 AEUV, §§ 3 Abs. 1, 7 EntgTranspG auf das gleiche Grundgehalt wie P und auf eine Entschädigung i. H. v. 2.000 EUR nach § 15 Abs. 2 AGG. Die Beklagte habe die hier einschlägige Vermutung des §
22 AGG, wonach die niedrigere Vergütung aufgrund des Geschlechts erfolgt sei, nicht widerlegen können. Die Vermutung der geschlechtsbedingten Benachteiligung könne zwar widerlegt werden, wenn der Arbeitgeber Personalgewinnungsschwierigkeiten darlegt und beweist, die das höhere Entgelt erforderlich machten, um die offene Stelle zu besetzen. Derartige Gründe habe die Beklagte aber nicht vorgetragen. Es sei nicht dargetan, dass es keine ebenso gut geeigneten Bewerber wie den P gegeben hätte, die die Stelle zu der von der Beklagten angebotenen Vergütung besetzt hätten. Auch der Umstand, dass die Beklagte dem P zunächst dasselbe Gehalt wie der Klägerin angeboten hatte, aber P aktiv eine höhere Grundvergütung eingefordert hat, kann nach Ansicht des Senats die Vermutung der Benachteiligung nicht entkräften. Würde allein der Hinweis auf besseres Verhandlungsgeschick genügen, könnte der Grundsatz des gleichen Entgelts nicht effektiv umgesetzt werden. Ferner könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Geschlecht mitursächlich für das Nachgeben des Arbeitgebers in der konkreten Verhandlungssituation war. Dem Einwand der Be-klagten, die Klägerin sei durch die großzügigere Urlaubsvereinbarung an anderer Stelle bessergestellt, stellt der Senat einen Erst-Recht-Schluss entgegen: Das Gebot der Entgeltgleichheit gelte streng für jeden einzelnen Bestandteil des Grundgehalts. Da bereits verschiedene Entgeltbestandteile nicht mit-einander verrechnet könnten, seien erst recht nicht andere, nicht monetäre Vertragsbedingungen wie Urlaub zur Widerlegung der Vermutung einer geschlechtsbezogenen Entgeltbenachteiligung geeignet.
Praxishinweis
Nachdem bereits die Pressemitteilung des BAG zu diesem Urteil hohe Wellen geschlagen hat, lohnt sich die Analyse der nun vorliegenden Urteilsgründe. Der 8. Senat beschreitet insoweit Neuland, als dass er in aller Klarheit feststellt, dass individuelles Verhandlungsgeschick eine Entgeltungleichheit zwischen den Geschlechtern nicht rechtfertigen kann. Dennoch bleiben etliche Kriterien, bei deren Heranziehung die ungleiche Bezahlung nicht wegen des Geschlechts erfolgt. So nennt der 8. Senat bessere Qualifikation, längere einschlägige Berufserfahrung und – wie angesprochen – Personalgewinnungsschwierigkeiten als Anknüpfungspunkte. Es ist zu erwarten, dass es in künftigen Gerichtsverfahren um die weitere Ausdifferenzierung dieser Kriterien gehen wird. Für Arbeitgeber sollte das Urteil Anlass sein, Gehaltsverhandlungen und ihren Kontext gründlich zu dokumentieren, um die Gründe für die vergütungsseitige Besser- bzw. Schlechterstellung einer Frau oder eines Mannes im Streitfall beweisen zu können.
Quelle: VBF Nord